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Newsletter Juli-September 2018

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Schwung: Newsletter Juli-September 2018




Liebe Leserin, lieber Leser,

was für ein schöner, langer Sommer! Konnten Sie ihn ebenso genießen wie ich? Sicher, die Natur hat gelitten, die Landwirte ebenso, und ich an den ganz heißen Tagen auch. Doch gerade diese Urlaubstage, an denen mir vor lauter Hitze die Lust verging, etwas am Urlaubsort zu unternehmen, wurden mir ein ganz besonderes Geschenk. Aber der Reihe nach.

Es begann während unseres alljährlichen Semestertreffens, dieses Mal in Rothenburg ob der Tauber. Am ersten Abend saßen wir entspannt auf den Bänken vor der Herberge und genossen den lauen Abend. Die Rede kam – wie es unter Psychologen eben so geschieht – auf den Hirnforscher Gerald Hüther. Er bleibe nicht in seinem Elfenbeinturm, könne die Ergebnisse seiner Forschung bewundernswert verständlich weitergeben und habe kürzlich von erstaunlichen Studien rund um das Thema Demenz berichtet. Ich selbst hatte mal ein Interview mit ihm gelesen, in dem er kritisierte, was die Schule aus der Sicht seiner Fachdisziplin falsch macht. Interessant, aber nicht mein Thema. Doch nun wurde ich neugierig. Ich nahm mir vor, gleich nach dem Treffen mal nach ihm zu recherchieren.

Die Umstände machten es mir leicht: Zurück vom Semestertreffen, fand ich in den Mails den Hinweis auf den neuen Artikel eines Personalers, dessen Blog ich verfolge. Darin berichtete er ganz begeistert über den Vortrag Gerald Hüthers auf dem Personalmanagement-Kongreß 2018 in Berlin. Das war nun schon eher mein Thema! Ich folgte dem Youtube-Link zum Vortrag – und war tief bewegt von dem, was ich hörte. An dieser Bewegtheit und Begeisterung will ich Sie in diesem Newsletter teilhaben lassen.


„Wir wissen…“

Wissenschaft ist, was Wissen schafft. Doch wissenschaftliche Erkenntnis ist immer vorläufig. Die Dinge sind oft viel größer oder ganz anders, als wir meinen. Das hat die Physik vor gut 100 Jahren erlebt. Ende des 19. Jahrhunderts glaubte man noch, man habe die Welt im Großen und Ganzen verstanden. Zu manchen Details gebe es zwar noch Forschungsbedarf, aber wirklich neue Erkenntnisse seien nicht mehr zu erwarten. Dann kam Einstein: Alles, was man für absolut hielt, war plötzlich relativ. Und nicht genug damit: Kurz darauf wirbelte die Quantentheorie mit ihrem unglaublich „verrückten“ Denken nochmals alles durcheinander. Das war selbst Einstein zu viel: „Gott würfelt nicht!“ Doch heute sind beide Theorien nachgewiesen und praxisrelevant. So würde etwa das Navi nicht funktionieren, wenn es nicht Einsteinsche Effekte berücksichtigen würde.

Eine ähnliche Entwicklung hat auch die Hirnforschung durchlaufen. Sagte man noch vor wenigen Jahrzehnten dogmenhaft: „Wir wissen, daß sich das fertig entwickelte Gehirn nicht mehr weiterentwickelt“, so staunt man heute darüber, daß sich das Gehirn bis ins hohe Alter weiterentwickeln kann. „Wußte“ man bisher, daß die Gehirnstruktur von den Genen bestimmt werde, und der eine eben ein kluges, der andere ein dummes Hirn habe, so weiß man heute, daß sich das Gehirn entlang erlebter Erfahrungen strukturiert. „Wußte“ man bisher, daß wir der Demenz im Alter schutzlos ausgeliefert sind, so weiß man heute, was uns vor Demenz schützt.

Hüther erzählt in seinem Vortrag, wie er selbst diese Veränderungen miterlebt hat. Frühere, in Stein gemeißelte Dogmen der Hirnforschung haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Überraschende Forschungsergebnisse geben neue Informationen darüber, wie wir unser Gehirn am besten nutzen können, und in welchem Umfeld das am besten geht. An diesem Punkt war mir klar: Das ist mein Kernthema als angehender Feelgood Manager! Das gibt Hinweise, wie Unternehmensstrukturen und Unternehmenskultur beschaffen sein müßten, damit die arbeitenden Menschen ihr volles Potential entfalten können. Diese Erkenntnisse aus der Hirnforschung dürften künftig auch weitere Lebensbereiche und Wissenschaftsdisziplinen durcheinanderrütteln und neu ordnen.


Aus Erfahrung gut

Hier gibt’s also was zu lernen! Ich zog mir diesen Vortrag – und weitere ähnliche, die ich im Internet fand – auf mein kleines Notebook, auf dem ich immer meine Urlaubsfotos sichere. So konnte ich es mir in Ruhe anhören, falls es sich ergeben würde. Wie gut, daß einige der ganz heißen Tage meine Unternehmungslust so weit gedämpft haben, daß ich tatsächlich die innere Ruhe hatte, das geistige Neuland zu erobern. Was mich sonst frustriert hätte, wurde nun zu einem Gewinn: Während draußen die Hitze brütete, begeisterten mich die neuen Einblicke. Es waren Zeiten unbeschwerten Lernens, denn – so Hüther – Begeisterung ist wie Dünger fürs Gehirn, der neue Nervenverbindungen wachsen läßt. Ist das der Grund, warum ich trotz der lähmenden Hitze dieses Mal erstaunlich erfrischt und beschwingt aus dem Urlaub zurückgekommen bin?

Die überraschendste und grundlegendste Erkenntnis aus Hüthers Vorträgen: Unser Gehirn ist kein fertiges und unveränderbares Ergebnis genetischer Programme. Ob wir ein „kluges“ oder ein „dummes“ Gehirn haben, ist keine Schicksalssache. Das Gehirn strukturiert sich vielmehr entlang der Erfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens machen. Das sind zum einen körperliche Erfahrungen, zum anderen Erfahrungen, die wir in der Beziehung mit anderen Menschen machen, und zum dritten die „Erfolgserlebnisse“ durch gelungene Problemlösungen.

Die körperlichen Erfahrungen beginnen schon vor der Geburt. Das sich entwickelnde Gehirn entdeckt, daß „da unten ein Körper dranhängt“, wie Hüther es formuliert. Mit ihm kann es kommunizieren: Von dort kommen Impulse, die es beantwortet, und auf die der Körper wiederum antwortet. Das Kind kommt mit einem perfekt auf seinen Körper abgestimmten Gehirn zur Welt. Wann immer es dann mit Dingen spielt oder auf Bäume klettert, wächst das Gehirn weiter und „kalibriert“ sich einerseits ständig neu auf den heranwachsenden Körper und entdeckt zugleich die Welt. Hmm… wieviel mag wohl das Wischen auf einem Display bringen?


Lernen von anderen Menschen

Ein zweites großes Feld ist das Lernen von anderen Menschen. Der Mensch ist durch und durch ein Beziehungswesen. Was wir in der Interaktion mit anderen Menschen erleben, prägt uns. Menschen, die uns wichtig sind, werden uns zu Vorbildern, denen wir nacheifern. Auf diese Weise lernt das Kind – ohne Vokabeln oder Grammatik zu pauken – die Sprache, die es in seiner Umgebung hört. Es lernt den – nicht angeborenen – aufrechten Gang. Es lernt die Kultur kennen, in die es hineingeboren wurde – und damit genau das, was es braucht, um in seiner Umwelt, ob am Polarkreis, in der Stadt oder in der Wüste, zu überleben.

Die wichtigste „Zutat“ zum Lernen ist – wie Hüther immer wieder betont – die Begeisterung. Was uns emotional berührt, bedeutsam erscheint oder Spaß macht, das lernen wir spielend. Es ist faszinierend zu beobachten, wie ein Baby die Welt mit großen Augen betrachtet, oder wie sich ein Dreijähriger über ein buntes Steinchen oder über einen krabbelnden Käfer begeistern kann. In seinen ersten drei Lebensjahren – so Hüther – lernt der Mensch so viel, wie später nie mehr. Das gewaltige Entwicklungspotential, das im Kind liegt, entfaltet sich rasant. Und dann gibt es einen Bruch: Man beginnt das Kind zu erziehen. Es erlebt sich nicht mehr, wie es Hüther nennt, als „Gestalter seines eigenen Lernprozesses“. Man trägt nun von außen etwas an es heran, das es lernen soll. Man macht das Kind, das eigentlich Subjekt ist, zum Objekt von Erziehung, von Forderungen, von Erwartungen, später auch von Unterrichtung, von Zurechtweisung, von Bewertung. Es machte mich abgrundtief traurig, als Hüther an dieser Stelle feststellte: „Und dann ist Schluß mit Potentialentfaltung.“

Subjekt, Prädikat, Objekt: Wir kennen es aus der Grammatik. Das Subjekt tut etwas. Mit dem Objekt wird etwas getan. Das Subjekt handelt, das Objekt wird behandelt. Das Subjekt gestaltet, das Objekt wird gestaltet. Der Mensch, dessen tiefste Sehnsucht es ist, als Mensch – also als handelndes und gestaltendes Subjekt – wahrgenommen zu werden, wird zum Objekt gemacht.


Zum Objekt gemacht

Das geht das ganze Leben so weiter: Im Studium, auf der Arbeit, in Beziehungen. Erinnern wir uns: Hüther sprach zu Personalern. Ihr Schlußbeifall war stürmisch. Haben sie überhaupt begriffen, was er sagte? Besteht doch ihre Tätigkeit vor allem darin, Bewerber zu Objekten von Bewertung, von Vergleich, von Auslese zu machen. Anders geht es doch gar nicht! Und nicht genug damit: Vorgesetzte machen ihre Mitarbeiter zu Objekten von Erwartungen, von Anweisungen, von Maßnahmen, von Zielsetzungen, von Kontrolle, von Beurteilung. Hüther wischte mit einem Handstreich all das, was in unseren Organisationen und Unternehmen üblicherweise geschieht, einfach weg. Nichts davon hat Bestand vor den Ergebnissen der Hirnforschung.

Das mag der Grund dafür sein, warum die Gallup-Studien alljährlich feststellen, daß kaum mehr als 15 Prozent der Berufstätigen mit dem Herzen bei der Arbeit sind. Immerhin, diese 15 Prozent sind es noch. Es läuft also nicht alles schief. Doch dem gegenüber stehen ebenfalls 15 Prozent, die innerlich gekündigt haben. Von den verbleibenden zwei Dritteln dürfte so mancher lediglich Dienst nach Vorschrift machen. Unsere Volkswirtschaft fährt mit fest angezogener Handbremse. Dennoch ist sie erstaunlich leistungsfähig. Was wäre möglich, wenn es uns gelänge, die Handbremse zu lösen?

Doch wie kann man die Handbremse lösen? Wie müßte sich unsere Art zu arbeiten verändern, so daß wir andere nicht mehr zu Objekten machen, sondern einander als Subjekte, als Menschen begegnen? Bewerber nicht mehr beurteilen und selektieren, Mitarbeiter nicht mehr anweisen und kontrollieren – geht das denn überhaupt?


Lernen aus Erfolgserlebnissen

Zurück zu Gerald Hüther. Er holte, um diese Frage zu beantworten, noch etwas aus, und führte einen neuen Begriff ein: Das Gehirn verbraucht viel Energie und versucht deshalb, möglichst energiearm zu arbeiten. Deshalb strebt es stets einen entspannten Zustand an, in dem „alles paßt“, in dem Denken, Fühlen und Handeln widerspruchsfrei übereinstimmen und die Beziehungen zu sich selbst und zu anderen stimmen. Das ist der Zustand der Kohärenz. Der wird jedoch immer wieder durch äußere Umstände oder innere Widersprüche gestört. Dann feuern die Neuronen im Hirn wild durcheinander. Wir erleben das als Streß, Schmerz oder körperliches Unbehagen. Das ist der Zustand der Inkohärenz. In solch einem aufgewühlten Zustand läßt es sich weder gut denken, noch gut arbeiten.

Eine kohärenzstiftende Problemlösung muß also her. Gelingt das, dann springt das „Belohnungssystem“ an. Es schüttet Botenstoffe aus, die nicht nur ein gutes Gefühl erzeugen, sondern auch die an der Problemlösung beteiligten Nervenzellen zum Wachstum anregen – Hüther spricht vom „Dünger fürs Hirn“. Hier strukturiert sich das Gehirn – entgegen dem früheren Dogma der Gehirnforschung – um. Neues wächst, die Lösung bahnt Verknüpfungen im Gehirn und läßt sich deshalb später leicht wieder abrufen.

Dies ist – neben körperlichen Erfahrungen und Erfahrungen in Beziehungen – der dritte Weg, wie sich das Gehirn umstrukturiert und Neues schafft: Die beglückende Erfahrung, ein Problem kohärenzstiftend gelöst zu haben.


Die stärkste Kohärenzstörung

Leider ist die Erfahrung, von anderen zum Objekt gemacht und von ihnen benutzt zu werden, nicht nur schmerzhaft – es ist die stärkste Kohärenzstörung überhaupt. Wie läßt sich dieses Problem lösen? Es gibt nur zwei Ansätze. Der eine: Man macht andere Menschen ebenfalls zu Objekten – etwa seiner Bewertungen: „Doofe Mama!“ „Blöder Lehrer!“ So zitiert Hüther den Kindermund. Das löst zwar nicht das Problem, schafft aber ein Stück Erleichterung. Wer diese Strategie besonders gut umzusetzen vermag, wer seine Fähigkeiten perfektioniert, Menschen zu manipulieren und für die eigenen Ziele einzusetzen, übernimmt am Ende – so Hüther spitz – eine Führungsrolle in Politik oder Wirtschaft.

Der zweite Ansatz, die Kränkung der Kohärenzstörung zu ertragen, besteht darin, sich selbst zum Objekt zu machen: „Ich bin nicht begabt.“ „Ich bin zu dumm dafür.“ Man fügt sich bewußt selbst den Schmerz zu, dann tut es nicht mehr so weh, wenn es ein anderer macht. Zum zweiten Mal während Hüthers Vortrag war ich den Tränen nahe, als er sagte: „Nicht gut genug. Nicht schön genug. Nicht liebenswert genug. Auch hier ist Schluß mit jeglicher Entwicklung.“ Mehr noch: Man mag sich selbst nicht, man mag andere nicht. In der Folge gelingen Beziehungen nicht… Was für ein Abgrund tat sich vor meinem inneren Auge auf! Unendlich viel läuft schief in unserer Gesellschaft, weil wir es nicht schaffen, den anderen spüren zu lassen, daß er ein Mensch ist.

Vermutlich schlagen vor allem Introvertierte und Hochsensible den Weg der Selbstherabsetzung ein. Denn sie suchen zuerst den Fehler bei sich selbst, bevor sie andere beschuldigen. Etwas in dieser Art meint die „Entdeckerin“ der Hochsensibilität, Elaine Aron wohl, wenn sie sagt, daß Hochsensible, die eine schwierige Kindheit hatten, es schwerer haben, mit ihrer Hochsensibilität zu leben. Doch als Coach war ich nie bereit, das zu akzeptieren. Ich war und bin überzeugt, daß es immer eine Möglichkeit gibt, sich weiterzuentwickeln. Wie schön, daß Gerald Hüther das von seiner Wissenschaft her bestätigt. Spannend, wie er das an anderer Stelle formuliert: „Die Liebe bewahrt offenbar die Kraft in sich, ungünstige Beziehungserfahrungen zu transformieren und versiegte Quellen der Kreativität neu zu erschließen.“


Hierarchie abschaffen

Doch zunächst stellte er die Frage, die an diesem Punkt sicher alle im Publikum bewegte: „Warum machen wir eigentlich diesen Mist? Warum tun wir uns das gegenseitig an?“ Er begründete das damit, daß wir Menschen wegen unserer Unterschiedlichkeit für eine gelingende Zusammenarbeit eine äußere Struktur brauchten, die alles ordne und zusammenhalte. Diese Struktur sei die Hierarchie. Es sei geradezu ihr Wesensmerkmal, Menschen zu Objekten zu machen.

Sie habe seit Jahrtausenden gut funktioniert, vor allem beim Militär. Doch heute stoße sie an eine Grenze: Unsere digitalisierte und globalisierte Welt sei komplex geworden. Hierarchie hingegen neige dazu, „deterministische Strukturen“ zu bilden. Da rutschte dem sonst so verständlich redenden Forscher doch glatt ein Fachwort dazwischen. Es bedeutet: Solche Strukturen sind starr, vorherbestimmt, statisch – weshalb da Status so wichtig ist. Es gibt keinen Raum für den menschlichen Willen. Man hat sich zu fügen. Es liegt auf der Hand, daß diese Starrheit nicht mit der Bewegung und Komplexität unserer Zeit zusammenpaßt. Was früher wie Öl im Getriebe wirkte, ist heute zum Sand im Getriebe geworden.

Hüther sagt, die Hierarchie gehöre deshalb abgeschafft. Damit unterstützt und begründet er von der Gehirnforschung her die Forderung anderer Vordenker wie Niels Pfläging, Lars Vollmer, Frederic Laloux, der New Work-Bewegung und vieler anderer, die allesamt darin übereinstimmen, daß sich die Arbeitswelt und unsere Art, zusammenzuarbeiten, verändern müsse. Die emotional überaus bewegende Reise, auf die mich Hüther in seinem Vortrag mitgenommen hat, hatte hier für mich ihren Höhepunkt: Immer mehr Erkenntnisse sprechen dafür, sich für eine bessere Arbeitswelt einzusetzen. Die Ausführungen Hüthers zeigen eine Richtung auf, in die sich Unternehmenskulturen entwickeln sollten – und präzisieren damit auch die Richtung, in die Feelgood Management wirken sollte.


Den inneren Kompaß finden

Doch wieder ging die emotionale Kurve nach unten: Man könne die Hierarchie als ordnendes Prinzip unserer Gesellschaft nicht einfach abschaffen. Das Ergebnis wären Chaos und Anarchie. Etwas Neues müsse an die Stelle des Alten treten. Was wäre denn die Alternative zur Hierarchie? Die, so Hüther, gebe es noch nicht. Und ich fürchte, da hat er recht. Es gibt zwar Ideen und erste erfolgreiche Praxisbeispiele, wie sich Unternehmen anders strukturieren ließen, um die Arbeit menschlicher zu machen. Und damit tut man sich schon schwer genug. Doch wenn man über die Wirtschaft hinaus die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt, scheint tatsächlich noch die Orientierung zu fehlen.

Hüthers Vorschlag: Wir brauchen als Gesellschaft ein gemeinsames Anliegen, das wie ein innerer Kompaß wirkt. Kein Ziel, denn das könne man erreichen, und dann sei es vorbei mit der Gemeinsamkeit. Auch keine Vision, denn die sei zu unscharf. Sondern eben ein gemeinsames Anliegen, das alle ziehe und beflügele, und das groß genug sei, daß man lange daran arbeiten könne. Doch die Antwort auf die Frage, was denn solch ein Anliegen sein könne, blieb er schuldig. Das könne nur jeder einzelne für sich herausfinden. Was sich meines Erachtens nicht als gemeinsames Anliegen eignet: Einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen – etwa die AfD oder den Klimawandel. Bekämpfen ist kein Gestalten. Ich denke eher an Berufung, diesen lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozeß, der wie ein innerer Kompaß fürs eigene Leben wirkt. Das ist noch nichts Gemeinsames. Aber ich weiß von einem Berufungscoach im Ausland, der nach Unternehmensberufungen sucht, indem er die Einzelberufungen der Mitarbeiter zusammenträgt. Was daraus entsteht, ist ein gemeinsames Anliegen, das alle mittragen können.

Hüther setzt auf Selbstorganisation, die aus den Anliegen Einzelner zunächst Gruppenanliegen, und dann weiter ein gesellschaftsweites gemeinsames Anliegen herausbildet. Seine These ist mit Blick auf unsere heutige zersplitterte Gesellschaft kühn. Unmöglich wäre es jedoch nicht. An anderer Stelle nennt Hüther das Beispiel der Wende in der DDR: Daß innerhalb weniger Monate aus kleinen Montagsgebeten gewaltige Montagsdemonstrationen entstanden, hätte niemand vorhersehen können. Wenn Hüther allerdings von einem inneren Kompaß spricht, dann illustriert dieses Beispiel, daß auch ein Kompaß etwas Äußeres braucht, auf das er reagieren kann: Ein orientierunggebendes Magnetfeld. Es war der gemeinsame Glaube, der magnetfeldartig einer Handvoll Beter ein Anliegen aufs Herz legte, das bald zum gemeinsamen Anliegen des ganzen Volkes wurde.


Ressourcennutzung statt Potentialentfaltung?

Mit seiner ruhigen und sachlichen Art zu reden, und mit seiner Gabe, wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich zu machen, schafft es Hüther immer wieder, deutliche Kritik zu plazieren. So kritisierte er während eines Vortrages zu einem Girls Day, daß solche Veranstaltungen nicht funktionieren könnten. Mädchen und Jungs seien nun mal verschieden und hätten verschiedene Interessen. Es gehe nicht darum, junge Menschen da hinzulenken, wo die Gesellschaft sie haben wolle, sondern darum, die Potentiale dieser jungen Menschen zu fördern, wo immer sie liegen. Wenn ein Mädchen Mathe oder Informatik studieren wolle, dann werde es das auch ohne Girls Day tun. Und wenn seine Potentiale in anderen Gebieten angelegt seien, werde der Girls Day daran nichts ändern.

Auch für die Personaler hatte Hüther deutliche Worte: Sie nähmen sich zu wenig Zeit, die Bewerber kennenzulernen. Es spare zwar Geld, den Bewerbungsprozeß straff und effizient durchzuziehen, aber am Ende koste diese falsche Sparsamkeit – wie so vieles in Wirtschaft und Politik – mehr Geld, als wir überhaupt bezahlen können. – Ich selbst habe als Coach das Privileg, viele Stunden mit den Menschen zu verbringen, die ich begleite. Es ist faszinierend, wie viele Schätze in ihnen liegen. Aber es braucht eben diese Zeit, um sie zu entdecken.

Anders die „Human Resources“-Leute: Sie suchen nicht nach verborgenen Schätzen, sondern sie schauen auf Ressourcen, nach bereits verwirklichten Potentialen. Sie fragen: Kann der Bewerber das, was wir von ihm fordern? Wenn nicht, ist er raus. Kein Blick auf sein Potential, also auf das, was in ihm angelegt, aber noch nicht verwirklicht ist. Es ist in unserer Arbeitswelt nicht vorgesehen, daß ein Mensch etwas hervorbringen kann, das noch nicht zu sehen ist. Das macht die Arbeit der Recruiter so schwierig: Sie müssen genau den Bewerber finden, der schon fertig entwickelt auf die ausgeschriebene Stelle paßt. Kein Gedanke daran, daß ein Bewerber durch Entfaltung seines Potentials in diese Stelle hineinwachsen könnte.


Potentialentfaltung statt Ressourcennutzung!

Warum das so ist, hat Hüther in seinem Vortrag ausführlich begründet: Hierarchische Unternehmensstrukturen machen Menschen zu Objekten. Und wenn man Menschen zu Objekten macht, ist Schluß mit Potentialentfaltung. Hierarchische Unternehmen können also gar nicht mit dem Potential der Mitarbeiter rechnen. Ihnen stehen nur Ressourcen zur Verfügung. Abgesehen davon können Unternehmen in unserer überschleunigten Welt ohnehin nicht mit Entwicklung rechnen, denn dafür ist ja keine Zeit. Es muß sofort passen.

Der Mensch kommt mit einer unfaßbar großen Fülle an Potential zur Welt. Was er davon nutzt, verwirklicht sich und wird ihm zum Schatz. Was er nicht nutzt, verliert sich und verfällt. Aber – das ist die erstaunliche Nachricht aus der Hirnforschung – er kann immer wieder neue Nervenverknüpfungen im Gehirn bilden, wenn er sich traut, Neuland zu erobern und neue Erfahrungen zu machen. Voraussetzung dafür ist, sich dabei als Gestalter des eigenen Lernprozesses zu erleben. Also Subjekt zu sein – nicht Objekt. Hüther nennt die Herausforderung für die Unternehmenskultur in komplexen Zeiten: Die Menschen als Menschen behandeln. Sie ermutigen, einladen und dafür begeistern, neue Erfahrungen zu machen. Und – das ergänze ich – ihnen die Zeit zum Wachsen geben.

Doch wie soll das gehen? Ein Chef, der selber Objekt der Erwartungen, Ziele und Absichten seines Vorgesetzten ist, ist doch gar nicht in der Lage, seine Leute zu ermutigen, einzuladen oder zu begeistern. Nicht nur unsere Arbeitswelt, sondern unsere gesamte Gesellschaft steckt fest im jahrtausendealten Hierarchiedenken. Dennoch: Es gab einen Satz in Hüthers Vortrag, der mich überaus ermutigte: „Solange sich Menschen gegenseitig zu Objekten machen, ist die Entfaltung der in diesen Menschen angelegten Potentiale unmöglich. Sobald aber Menschen anfangen, einander als Subjekte zu begegnen, ist die Entfaltung der in diesen Menschen angelegten Potentiale unvermeidbar.“ Unvermeidbar! Da sollte doch noch was gehen!


„Wir wissen…“

Wir wissen heute viel mehr über den Menschen als vor 100 Jahren, der Entstehungszeit der Psychologie, wie auch der „modernen“ Betriebswirtschaftslehre. Wir wissen, was wir falsch machen. Wir wissen, was nötig ist, damit ein Mensch über sich selbst hinauswachsen kann. Doch es reicht nicht, es zu wissen. Wir müssen es umsetzen. Die Zeit ist jetzt nicht nur reif dafür – es ist auch höchste Zeit. Wenn wir den Wandel nicht innerhalb des nächsten Jahrzehnts schaffen, fallen wir möglicherweise wirtschaftlich und politisch in die Bedeutungslosigkeit. Die Geschichte kennt Beispiele für solch verpaßte Gelegenheiten.

Doch es ist ja nicht nur ein Problem der Wirtschaft. Wohin man schaut, machen sich Menschen gegenseitig zum Objekt: Politiker machen das Volk zum Objekt von Pflichten und Verboten. Das Volk macht die Politiker zum Objekt von Kritik und Protest. Satiriker machen Politiker zum Objekt von Spott und Häme. Beamte machen „Hartzer“ zum Objekt von Zwang und Maßnahmen. Selbst da, wo es scheinbar positiv läuft, ist es nicht besser: Das Publikum macht den Künstler zum Objekt von Bewunderung und Verehrung – eine zerstörerische Mischung aus Erfolg und Inkohärenz, nicht selten mit Sucht als „kohärenzstiftender Problemlösung“. Therapeuten und Coaches machen ihre Klienten zum Objekt von Methoden und Therapien. Und sogar Liebende machen den geliebten Menschen zum Objekt ihrer Bedürftigkeit, wenn sie sagen: „Ich brauche dich. Ich kann ohne dich nicht leben.“ Was für ein Mißverständnis: Wir haben tatsächlich das Bedürfnis, gebraucht zu werden – aber nicht im Sinne des Benutztwerdens, sondern im Sinne eines selbstbestimmten Beitragens und Gestaltens.

Hüthers Vortrag hat mir für vieles die Augen geöffnet. Jetzt verstehe ich, warum ich mich als Coach nicht so recht mit Methoden anfreunden kann, und warum mir statt dessen die gemeinsame Augenhöhe so wichtig ist. Bisher tat ich das immer mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich nicht wie ein „richtiger“ Coach arbeite. Aber vielleicht ist es ja gerade an uns Hochsensiblen, wahrzunehmen, wo etwas im menschlichen Miteinander nicht stimmig ist, und es stimmiger zu machen? Alles, was unsere Welt auch nur ein kleines Stück besser macht, bringt uns weiter. Trauen wir uns!

Herzlichst,
Ihr Reimar Lüngen



„Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen.“
– Gerald Hüther



Inhalt

> Online-Kurs: Von der Veranlagung zum Potential
> Demenz: Wie uns Kohärenz schützt
> Termine und Infos
> Beruflichen Wandel meistern



Online-Kurs: Von der Veranlagung zum Potential

Hier wird’s praktisch: Ein vierwöchiger Online-Kurs hilft Hochsensiblen, das in ihrer Gabe liegende Potential zu entfalten. Der Kurs richtet sich an Menschen, die ihre Hochsensibilität erst kürzlich entdeckt haben. Er vermittelt einerseits Wissen auf dem Stand der aktuellen Forschung. Andererseits unterstützt er die Teilnehmer schrittweise, die eigene Hochsensibilität kennenzulernen, zu integrieren und zu entfalten. Das Ziel ist ein Perspektivenwechsel: Was bisher Begrenzung und Belastung war, wird zur Kraft und Stärke.

Zwei erfahrene Expertinnen – Brigitte Küster (ehemals Schorr, Leiterin des Instituts für Hochsensibilität, Schweiz) und Annette Hempel (Gründerin des Zentrums für Hochsensibilität, Darmstadt) – begleiten die Teilnehmer Schritt für Schritt durch ihren Entwicklungsprozeß. Ich habe beide auf dem Kongreß für Hochsensibilität kennengelernt und empfehle ihr Projekt gern (und ohne dafür bezahlt zu werden).

Beginn ist am 5. Oktober. Es gibt Live-Webinare und Zeit für Selbststudien, und natürlich Austausch mit anderen hochsensiblen Teilnehmern. Inbegriffen ist ein einstündiges Online-Coaching bei einer der beiden Expertinnen.

Information und Anmeldung: www.zentrum-hochsensibilitaet.de/veranstaltungen/online-kurs-hochsensibilitaet-potential



Demenz: Wie uns Kohärenz schützt

Den Kohärenzbegriff prägte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky im Rahmen seines Konzeptes der Salutogenese. Sie fragt danach, was Gesundheit fördert, und sieht im Kohärenzgefühl den entscheidenden Schutzfaktor, denn es fördere die Selbstheilungskräfte des Organismus.

Kohärenz entsteht, wenn drei Faktoren gegeben sind: (1) Ich empfinde meine Welt als verständlich und geordnet, kann auch Probleme in einem größeren Zusammenhang sehen. (2) Ich kann Aufgaben und Probleme, die mir das Leben stellt, mit eigenen Möglichkeiten oder der Hilfe anderer bewältigen. (3) Mein Leben ist sinnvoll, es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt.

In seinem Buch „Raus aus der Demenzfalle“ greift Gerald Hüther die berühmte Nonnenstudie von David A. Snowden auf, für die er die Gehirne verstorbener Nonnen untersuchte. Darin fand Snowden zwar die gleichen Abbauerscheinungen wie in Gehirnen verstorbener Alzheimerpatienten, aber die Nonnen hatten zu Lebzeiten keine Anzeichen von Alzheimer gezeigt. Warum nicht? Hüther führt es auf den Lebensstil der Nonnen zurück: Ihre Welt im Kloster war verstehbar, gestaltbar und sinnhaft – sie erlebten Kohärenz. Deshalb habe ihr Gehirn trotz voranschreitender Abbauprozesse immer wieder neue Nervenverknüpfungen bilden können.


Verstehen, gestalten, Sinn entdecken

Damit stellt Hüther bisherige Erklärungsmuster der Demenzforschung in Frage und öffnet neue Wege abseits des klassischen „Reparaturdenkens“ der Medizin – auch wenn sich eine fortgeschrittene Demenz auf diese Weise wohl nicht mehr zurückbilden läßt. Rechtzeitig im Leben durch den richtigen Lebensstil die eigene Gesundheit stärken zu können – das klingt verlockend. Es legt uns aber auch eine Verantwortung auf, die Druck auslösen kann: Wir leben ja nicht im Kloster, sondern in einer komplexen und gleichermaßen globalisierten wie zersplitterten Welt, die weder verstehbar, noch gestaltbar, geschweige denn sinnvoll erscheint.

Doch es geht ja nicht um die ganze Welt. Es geht zunächst um mein mir zugängliches Umfeld, das ich – hoffentlich – verstehen und gestalten kann. Herausfordernder ist es schon, zu verstehen, wie es in einen größeren Kontext eingebunden ist. Gelingt das, dann erweitert es die Gestaltungsmöglichkeiten und hilft, den Sinn darin zu entdecken. Den übergeordneten Zusammenhang und das größere Muster sehen und vermitteln – das ist eine besondere Stärke Hochsensibler! Sie haben damit in meinen Augen einen besonderen Auftrag für unsere orientierungslos gewordene Welt, der wiederum der Hochsensibilität Sinn gibt.

Mir selbst hilft beispielsweise die – im Newsetter öfter erwähnte – Kondratiefftheorie der langen Wellen der Konjunktur sehr, die immer wiederkehrenden Muster der Geschichte zu entdecken und von ihnen zu lernen: Ich verstehe, warum unsere Welt nicht mehr verstehbar ist. Denn wir befinden uns in einer Übergangsphase, die zwar chaotische Züge hat, aber gerade deswegen besondere Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Sich hier zu engagieren, und beispielsweise die Arbeitswelt gesundheitsförderlich – also verstehbar, gestaltbar und sinnhaft zu machen – ergibt zweifellos Sinn.



Termine und Infos

Weiterhin fordert Veränderung in meinem Leben einen wesentlichen Teil meiner Aufmerksamkeit. Dennoch halte ich meine Coachingkapazitäten aufrecht und stehe weiterhin für Coachinganfragen zur Verfügung. Auch die Seminartätigkeit ruht weiterhin, jedoch bleibe ich für längerfristig planbare, außerreguläre Anfragen offen.


Seminaranfragen

Immer wieder werde ich gefragt, ob es Seminare, wie ich sie anbiete, auch anderswo als nur in Norddeutschland gäbe. Meines Wissens nicht – aber ich würde sie auch woanders halten, wenn ich eingeladen werde. Wenn es am Ort einen Ansprechpartner oder ein Team gibt, das bei der Organisation hilft und lokal auch ein wenig die Werbetrommel rührt, dann können wir mit wenig Aufwand Großes erreichen – natürlich zu beiderseitigem Nutzen, wie bisherige Veranstaltungen zeigen. Also: Wenn Sie mich als Referent einladen möchten, dann sprechen Sie mich gern an!

Mehr zu meinen Seminarthemen auf: www.RLuengen.de/termine



Beruflichen Wandel meistern

Sie sind frustriert im Beruf? Drohen auszubrennen? Langweilen sich zu Tode? Vermissen den Sinn? Wissen nicht, wie es weitergehen soll? Dann bleiben Sie nicht in Ihrer frustrierenden Situation! Sie riskieren sonst vielleicht sogar gesundheitliche Schäden. Warten Sie nicht, bis es zu spät ist.

Wenn Sie sich eine Veränderung nicht zutrauen oder nicht wissen, was Sie als nächstes tun sollen, dann stehe ich Ihnen mit Berufungscoaching und/oder Bewerbungscoaching gern zur Verfügung: Sie entdecken, was in Ihnen steckt, gewinnen Klarheit über Ihre Möglichkeiten, wissen, welche Richtung Sie einschlagen können, verstehen, wie der Bewerbungsprozeß funktioniert und präsentieren mutig einen Lebenslauf, auf den Sie stolz sein können.

Wenn Sie sich das wünschen, dann lassen Sie sich doch zu einem unverbindlichen und kostenlosen Kennenlerntelefonat einladen. Wir nehmen uns Zeit füreinander und ergründen, was Sie brauchen und was ich für Sie tun kann. Sie gehen kein Risiko ein: Nur wenn alles perfekt paßt, beginnen wir mit dem Coaching. Davor sind Sie zu nichts weiter verpflichtet.

So erreichen Sie mich:

Reimar Lüngen
Onckenstraße 11
22607 Hamburg

Tel. 040/28 41 09 45
E-Mail info@klaarkimming.org

Mehr Infos auf: www.KlaarKimming.org




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