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Newsletter November 2014

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Schwung: Newsletter November 2014




Liebe Leserin, lieber Leser,

vermehrte Graffiti-Schmierereien in der ganzen Stadt. Streiks bei Bahn und Lufthansa. Krieg in Syrien und in der Ukraine. Was haben diese Dinge, die mich im Oktober bewegt haben, gemeinsam? Ein Stichwort, das Sie vielleicht noch nie gehört haben, das mich aber im letzten Monat in vielerlei Hinsicht besonders beschäftigt hat: „Soziale Entropie.“ Was hat es mit diesem Wort auf sich? Was steckt dahinter? Lassen Sie sich ein Stück mitnehmen in meine Überlegungen.


Wenn der Kaffee kalt wird

Der Begriff Entropie stammt aus der Physik, genauer aus der Wärmelehre, und beschreibt einen uns allen bekannten Vorgang: Der Kaffee wird kalt. Und zwar ohne unser Zutun, ganz von allein. Wir haben einen gewissen Aufwand getrieben, um den Kaffee zu erhitzen – etwa mit Hilfe eines Wasserkochers oder einer Kaffeemaschine. Wir haben, physikalisch gesprochen, Energie zugeführt. Und zwar gezielt, nur dem Kaffee, nicht der ganzen Küche. Die Luft in der Küche blieb kühl, der Kaffee in der Tasse war heiß. Und nun passiert es: Der Kaffee, sich selbst überlassen, gibt Wärme an seine Umgebung ab. Am Ende ist der Kaffee 50 Grad kälter und die Luft ein Zehntelgrad wärmer.

Charakteristisch dabei: Das geschieht ganz von selbst. Noch nie haben wir es erlebt, daß der Kaffee in der Tasse von selbst heißer wurde. Der Wärmestrom, sich selbst überlassen, hat immer nur eine Richtung: Vom heißen Kaffee weg. Man spricht von einem „irreversiblen“, also unumkehrbaren Vorgang. Zumindest, wenn er sich selbst überlassen ist. Wollen wir den Wärmestrom umkehren, also den Kaffee wieder erhitzen, müssen wir wieder Aufwand betreiben und Energie zuführen (mal abgesehen davon, daß wir kalten Kaffee wahrscheinlich lieber wegschütten und neuen aufbrühen). Solche Vorgänge, die in die eine Richtung „von selbst“ laufen und in die andere Richtung Energie und Aufwand brauchen, gibt es überall im Leben. Um sie geht es, wenn wir von Entropie sprechen.

Schon als Kind habe ich mich gefragt, wieso der Ball zwar von allein unter den Schrank rollt, aber nicht von selbst wieder hervorrollt. Ich fand es doof, daß ich ihn da mühsam wieder hervorangeln mußte. Ich mußte Aufwand betreiben und Energie investieren. Was ich erlebt hatte, war ein solcher unumkehrbaren Vorgang. Daß der Turm aus Bauklötzen, den ich mühsam aufbaute, ganz von selbst wieder umfiel, war auch solch ein Vorgang. Na gut: Fast von selbst. Ich bin nur ganz leicht dagegengestoßen, und schon fiel er um. Das Aufbauen kostete Energie und Aufwand, das Umfallen brauchte nur einen winzigen Stoß. Die beiden Richtungen des Vorgangs brauchen unterschiedlich viel Energie – viel zum Aufbauen, wenig zum Einreißen. In die eine Richtung geht es leicht, in die andere schwer. Dieses Ungleichgewicht ist eine Folge dessen, was wir mit Entropie bezeichnen.


Wirken der Vergänglichkeit

Fallenlassen ist einfacher als hochheben. Verschmutzen ist einfacher als reinigen. Zerstören ist einfacher als aufbauen. Verletzen ist einfacher als heilen. Töten ist einfacher als Leben schenken. Böses tun ist einfacher als Gutes tun. Abwärts geht es immer einfacher als aufwärts. Ein Haus, das unbewohnt bleibt und sich selbst überlassen wird, wird nicht von allein schöner, sondern es verfällt. Eine Gesellschaft, die nicht regiert wird und sich selbst überlassen ist, wird von allein nicht besser, sondern verroht und zerfällt am Ende in Anarchie. Entropie ist Vergänglichkeit, das immerwährende Verschwinden von Ordnung und Struktur, wenn die Dinge sich selbst überlassen werden.

Überall, wo wir etwas entwerfen, schaffen, aufbauen, verbessern, ordnen, verschönern oder heilen, braucht es Aufwand und Energie. Arbeit muß getan werden. Planung ist nötig. Energie ist nötig. Menschen sind nötig, die sich engagieren und sich investieren. Geld ist nötig, um Material und Energie zu kaufen und die arbeitenden Menschen zu bezahlen. Wenn wir eine schönere Umgebung oder eine schönere Welt wollen, müssen wir mit Aufwand und Einsatz Entropie überwinden.

Viel einfacher ist es dagegen, im Einklang mit der Entropie zu handeln. Ein einziges Graffito kann eine frisch gestrichene Hausfassade verschandeln. Ein einziger Streik kann die wohldurchdachte und aufwendig hergestellte Ordnung eines Fahrplans nachhaltig stören. Eine einzige Granate kann innerhalb von Sekunden ein Haus zerstören, an dem ein Vielzahl von Menschen monatelang gebaut haben. Zerstören ist leichter als Aufbauen.


Wenn Menschen mitmachen

Ich sprach anfangs von sozialer Entropie. Es mag zunächst kühn erscheinen, einen Begriff aus der Physik auf das Soziale, das Menschliche und Zwischenmenschliche, zu übertragen. Doch wo immer der „von selbst“-Abwärtstrend der Entropie überwunden werden soll, sind Menschen daran beteiligt. Und wo immer es Menschen sind, die Geschaffenes und Geordnetes wieder zerstören und durcheinanderbringen, ist Entropie definitiv eine soziale Sache – oder vielmehr eine unsoziale Sache.

Im weitesten Sinne betrachtet, ist der Mensch dazu berufen, Entropie zu überwinden und Strukturen, Ordnungen, Schönheit zu schaffen. Das ist Arbeit gegen das Von-selbst der natürlichen Entropie. Gegen seine Berufung – und gegen die mühevolle Arbeit anderer – handelt der Mensch, wenn er Entropie fördert – Unordnung, Vergänglichkeit, Zerstörung. Er macht sich eins mit dem natürlichen Prozeß der Entropie und setzt noch eins drauf. Natur und Mensch wirken in die gleiche Richtung – das kann eine beträchtliche Dynamik entwickeln. Um so schwerer wird es für die, die mit ihrer Arbeit und ihrem Einsatz Entropie zu überwinden suchen.

Schmutzig wird es von allein. Den Besen, Schrubber oder Staubsauger zu schwingen, kostet Energie. Ich habe Hochachtung vor Reinigungskräften, Zimmermädchen und Fassadenreinigern. Ihre Arbeit ist in einer von Entropie regierten Welt schwierig – und äußerst wichtig. Doch leider ist sie weder hoch geachtet, noch gut bezahlt. Hinzu kommt: Es bleibt nicht lange sauber. Nicht nur natürliche, sondern auch soziale Kräfte wirken dem entgegen. Menschen lassen ihren Müll da fallen, wo sie gerade stehen oder gehen.


Der ewige Kreislauf

Zugabteile oder Flugzeugkabinen sehen am Ende mancher Reise aus wie ein Schlachtfeld. Die Hamburger Stadtreinigung hat die Mülleimer an Bushaltestellen mit Aschenbechern ausgestattet – nur eine Armeslänge von den Wartenden entfernt. Die Kippen landen trotzdem auf der Straße. Die Hamburger S-Bahn hat vor einigen Jahren mehrere Millionen in neue Sitze investiert. Das erste, was so manch Reisender zu tun hatte, war, mit den Schuhen auf die nagelneuen Sitze zu gehen. Heute sehen sie wieder so schmutzig aus wie vorher. Die einen säubern, die anderen verschmutzen. Die einen schaffen, die anderen zerstören. Beides passiert auf unserer Erde ständig und zu gleicher Zeit. Wir drehen uns unaufhörlich im Kreis. Erst hü, dann hott. Und wieder hü, und wieder hott. Wie sinnlos ist das Ganze!

Mich erinnert das an eine Science Fiction-Geschichte, deren Titel und Autor ich inzwischen leider vergessen habe. Doch dieses Bild der tristen Sinnlosigkeit habe ich nie vergessen. Die Geschichte spielt auf einem fernen Planeten, der ein Doppelsternsystem umkreist: Wenn die rote Sonne aufgeht, kommen die Arbeiter aus ihren armseligen Schlafquartieren und gehen an die Arbeit, die Ruinen der großen Stadt wieder aufzubauen, um einmal besser wohnen zu können. Sie arbeiten den ganzen Tag an dem großen, unüberschaubaren Werk und gehen bei Sonnenuntergang wieder erschöpft in ihre Quartiere. Wenn die blaue Sonne aufgeht, kommen die Arbeiter aus ihren armseligen Schlafquartieren und gehen an die Arbeit, die Ruinen der großen Stadt abzureißen, um Platz für Neues zu schaffen, damit sie einmal besser wohnen können. Sie arbeiten den ganzen Tag an dem großen, unüberschaubaren Werk und gehen bei Sonnenuntergang wieder erschöpft in ihre Quartiere.

Was die Geschichte so drastisch als Teile-und-herrsche-Strategie einer Elite darstellt, um die Massen beschäftigt zu halten, ist ebenso auch Ausdruck der in sich widersprüchlichen Natur des Menschen, die gleichermaßen Gutes und Böses umfaßt. Ein Phänomen, das die Menschheit stets einen Schritt vor und wieder einen zurück gehen läßt – ein ständiger Kreislauf. Ein Phänomen, über das sich Philosophen seit Jahrtausenden die Köpfe zerbrechen, und dem sich auch ein uraltes und sehr dickes Buch überraschend ausführlich widmet: die Bibel. Wenn wir dort die ältesten, fast 4000 Jahre alten Geschichten lesen, stellen wir fest, daß der Mensch ungeachtet allen technologischen Fortschritts als Mensch heute immer noch derselbe wie damals ist.


Wenn es uns zu gut geht

Das Muster ist immer und in allen Kulturen das gleiche und hat schon ganze Imperien zu Fall gebracht: Wenn es den Menschen genügend lange gut geht und sie sich nicht mehr ums Überleben sorgen müssen, kommen sie auf dumme Gedanken. Werte des Zusammenlebens gehen allmählich verloren, soziale Umgangsformen erodieren, Egoismus und Bequemlichkeit nehmen zu. Die Umwelt verschmutzt, die Entropie steigt. Die Bedürfnisse anderer gelten immer weniger. Es gibt Neid und Streit und Mißgunst – nicht selten bis hin zum Krieg. In den Auseinandersetzungen geht mühsam Geschaffenes kaputt, die Entropie steigt sprunghaft weiter. Jetzt geht es um das pure Überleben. Man muß wieder zusammenstehen, teilen, sich aufopfern. Zusammenleben wird wieder zur Tugend. Gemeinsam geht es ans Aufbauen, das vereinigte Wirken gegen die Entropie. Das Leben hat wieder Ziel und Sinn.

Wir wünschen uns eine Welt, in der es sich leicht lebt. Und doch sind wir mit unserer widersprüchlichen Natur gerade dafür nicht geschaffen. Das Schlaraffenland, das Land des ewigen Genusses und Müßiggangs, ist eine ersehnte Utopie. Doch die maß- und zügellosen Ausschweifungen superreicher Leute, die aufgehört haben zu arbeiten und sich nur noch dem Genuß widmen, zeigen, daß eben das dem Menschen nicht gut tut. Auf der anderen Seite gibt es Mangel und die Angst, zu kurz zu kommen, die ebenfalls zu unsozialen Erscheinungen führen, denen Streit, Gewalt und Zerstörung folgen können. Das oft geforderte unbedingte Grundeinkommen könnte diese Probleme vielleicht entschärfen – aber sie andererseits auch neu schaffen. Wir können auf beiden Seiten vom Pferd fallen.

Thema der letzten Wochen waren immer wieder die Streiks – wörtlich: „Schläge“ – der Piloten und vor allem der Lokführer, die mich selbst in Anspannung gehalten haben, weil ich überdurchschnittlich oft unterwegs sein mußte. Worum die Menschen im Osten vor 25 Jahren aufopfernd gekämpft haben, stellt nun ein Mann aus dem Osten ausgerechnet zum Jahrestag des Mauerfalls wieder in Frage: die Reisefreiheit. Es sind eigentlich Auseinandersetzungen zwischen Mitarbeitern und Unternehmen um Bezahlung und Arbeitszeiten. Das sei ihnen gegönnt. Doch warum treffen die den Unternehmen geltenden Schläge immer die Fahrgäste und Passagiere? Läßt sich die Auseinandersetzung nicht kreativer gestalten, so daß Unbeteiligte verschont bleiben und das Ausmaß der verursachten Entropie möglichst gering bleibt?


Stören statt gestalten?

Jemand sagte mal sehr hart, Gewerkschaftsführer seien Machtmenschen, die sonst nichts zuwege bringen. Stimmt das? Wenn ich höre, wie sie sich nach einem Streik stolz in den Medien damit brüsten, wieviel Chaos sie angerichtet haben, dann scheint mir einiges dafür zu sprechen. Mir wird ganz unheimlich dabei: Wie kann man sich darüber freuen, daß Pendler um ihren Erholungsschlaf gebracht werden, weil sie mitten in der Nacht aufstehen müssen, um pünktlich zur Arbeit zu kommen? Wie kann man sich darüber freuen, daß Urlaubern der Urlaub verdorben wird, daß Bewerber es nicht pünktlich zum Vorstellungsgespräch schaffen, daß Familien nicht rechtzeitig zu einem sterbenden Angehörigen kommen, um Abschied zu nehmen? Was sind das für Menschen, die sich darüber freuen, daß sie vielen anderen Menschen erfolgreich das Leben schwer gemacht haben?

Ich sage damit nichts gegen Streiks an sich. Sie sind ja in unserem Land ein Grundrecht – so wie das Versammlungsrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung. Mir geht es vielmehr darum, wie wir Rechte gebrauchen. So wie manche Meinungsäußerung zu Rufmord und manche Demonstration zum Gewaltausbruch werden kann, so haben auch Streiks ihre Folgen. Dessen sollten wir alle, die wir auf unsere Rechte pochen, bewußt sein. Unsere Rechte sind keine Selbstverständlichkeit und wollen maßvoll und rücksichtsvoll gebraucht werden – damit kein Mißbrauch daraus wird. Auch wenn ich noch so sehr im Recht bin, darf da keine Rechthaberei draus werden. Meine Rechte haben da eine Grenze, wo sie die Rechte anderer einschränken.

Wenn wir unsere Grundrechte mißbrauchen und überspannen, kann es sein, daß der Staat sie einschränken muß, um negative Auswirkungen zu verringern. Das ist problematisch für die Demokratie, aber unvermeidlich, wenn das Schadenspotential zu groß wird. Beim Streikrecht ist der Gesetzgeber gerade aktiv geworden. Es könnte sein, daß sich die Lokführergewerkschaft mit ihrem medienwirksamen Streben nach Macht und Einfluß selbst in die Bedeutungslosigkeit katapultiert.


Umdenken in der Gesellschaft

Es könnte sein, daß die Lokführer zwar irgendwann ihre bessere Bezahlung bekommen, aber dann ihre Jobs verlieren, weil die Fahrgäste entdeckt haben, wie gut es sich mit dem Fernbus reist und die Firmen ihre Logistik wieder von der Schiene auf die Straße verlagert haben. Es könnte sein, daß die um ihren Ruhestand besorgten Lufthansa-Piloten sich schlechtbezahlte Jobs bei ausländischen Billigfliegern suchen müssen, weil die um ihr Überleben kämpfende Lufthansa für die Passagiere zu unattraktiv wird und kaputt geht. Der Schlag der Streikenden hat dann wie gewünscht auch ihren Arbeitgeber getroffen – aber am Ende sind sie selbst die Getroffenen, denn sie sind vom Wohl ihres Arbeitgebers abhängig.

Es könnte sein, daß wir alle bei weiter andauernder Streikfreude der Dienstleistenden lernen müssen, anders zu leben. Wir sollten für unsere Mobilität nicht auf nur ein Transportmittel setzen. Die Vielfalt, die ich immer wieder anmahne, ist auch hier die bessere Lösung. Die Schiene mag das umweltfreundlichste Transportsystem sein, aber sie ist auch das störanfälligste. Logistikunternehmen, die auf die Bahn setzen, bekommen das gerade schmerzhaft zu spüren. Ein flexibler Mix aus Auto, Bus, Zug und Flieger ist als Ganzes weniger störanfällig.

Darüber hinaus könnten weiter andauernde Streiks uns veranlassen, auch unsere überschleunigte und überplante Hochgeschwindigkeitsgesellschaft und ihr Just-in-time-Modell in Frage zu stellen. Ich habe, um dem letzten großen Lokführerstreik zu entgehen, meine Anreise zu einem Netzwerktreffen kurzerhand um einen Tag vorverlegt. Das brachte mir einen unverhofften Tag Urlaub in einer sehr sehenswerten Stadt ein. Andere taten es mir offenbar gleich: Die Veranstalterin des regelmäßig stattfindenden Treffens staunte, daß diesmal alle pünktlich und entspannt erschienen, und daß wir auch nach dem offiziellen Ende noch Zeit für entspannte Gespräche hatten, weil niemand schnell zum Zug mußte.


Wandel in der Arbeitswelt

Sie wissen sicher, daß ich mich intensiv mit dem Thema Arbeitswelt beschäftige. Gelegentlich werde ich gefragt, ob ich mir mit dem, was ich als Berufungscoach tue, auch eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften vorstellen könnte. Ich würde das gern, wenn es denn darum ginge, die arbeitenden Menschen zu stärken und mündig zu machen. Die Arbeitswelt verändert sich radikal und fordert von den Menschen neue Fähigkeiten und eine neue Einstellung – nämlich miteinander statt gegeneinander zu arbeiten. Wir alle wissen aus der Praxis, wie sehr es daran mangelt. Wieviel Entropie produzieren Unternehmen allein durch den alltäglichen Kleinkrieg im Büro! Hier schlummern riesige Produktivitätsreserven.

Die industrielle Revolution verlagerte seinerzeit Arbeit von Feldern und Werkstätten in Fabriken. Es entstand ein gesetzlich weitgehend unregulierter Bereich. Arbeiter waren der Willkür der Industriellen schutzlos ausgeliefert. Das Verdienst der Gewerkschaften war es, als Vertreter der – gegenüber den Arbeitgebern schwachen – Arbeitnehmer Arbeit zu regulieren und erträglicher zu machen.

Mit dem Anbruch der Informationsgesellschaft in den 1980er Jahren hat sich die Arbeitswelt gewandelt, neue Branchen und neue Berufsbilder sind entstanden, deren übertariflich bezahlte Angehörige traditionell keiner Gewerkschaft angehören. Die Gewerkschaften verlieren in dem Maß Mitglieder, wie der industrielle Bereich schrumpft, und müssen um ihre Daseinsberechtigung kämpfen. So sind sicher die überzogenen Ansprüche der Lokführergewerkschaft einzuordnen: Es geht um Macht und Einfluß – und um die Abwerbung von Mitgliedern anderer Gewerkschaften.


Vergänglichkeit des Glücks

Die aktuell in volle Fahrt gekommene digitale Revolution ähnelt in manchen Belangen der industriellen Revolution: Konzerne nutzen ihre Daten- und Wirtschaftsmacht in bisher noch kaum regulierten Bereichen weidlich aus. Arbeit im beginnenden digitalen Zeitalter saugt Menschen wieder aus wie zu Zeiten von Karl Marx. Erstaunlicherweise scheint es für die unter ständigem Leistungsdruck stehenden Informationsarbeiter trotzdem kein Thema zu sein, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Sind die Gewerkschaften zu unattraktiv, weil sie immer noch industriell denken und handeln? Sind die Streiks, die wir gerade erleben, ein letztes Aufbäumen der Gewerkschaften gegen ihren Untergang? Dienen die Streiks den Berufstätigen überhaupt noch?

Für die betroffenen Lokführer mag die derzeitige Streikwelle ein Abenteuer sein. Endlich mal Abwechslung. Und mediale Aufmerksamkeit. Mal erleben, welchen Einfluß man hat. Und hoffentlich auch mehr Geld für weniger Arbeit bekommen. Doch für mich als Berufungscoach steht die Frage, ob sie damit glücklich sind. Haben sie Erfüllung bei der Arbeit? Leben sie in ihrer Berufung? Wahrscheinlich nicht. Berufung erlebt der Lokführer, der Erfüllung dabei verspürt, Reisende sicher und pünktlich an ihr Ziel zu bringen. Sie verlassen sich auf ihn, vertrauen ihm für die Zeit der Reise ihr Leben an. Sie warten am Bahnsteig und freuen sich, daß der Zug einfährt, der sie zur Arbeit, zur Konferenz, zu Angehörigen, in den Urlaub oder nach Hause bringt. Abschiedsszenen und freudige Begrüßungen auf dem Bahnsteig zeigen: Die Arbeit des Lokführers wird zu einem Teil des Lebens der Reisenden.

Kann jemand, der seine Arbeit so lebt, die Menschen, denen zu dienen er berufen ist, einfach im Regen stehen lassen? Die große Frage lautet: Fährt er für die Reisenden? Oder für seinen Chef? Ist seine Arbeit Dienst an Menschen? Oder ist sie Kampf gegen Menschen? Erlebt er Erfüllung? Oder erlebt er Frust? Leider können weder mehr Geld, noch kürzere Arbeitszeiten solchen Frust aufwiegen. Die Glücksforschung sagt, daß Lohnsteigerungen nur kurzzeitige Glücksgefühle hervorrufen. Sind sie abgeebbt, dann ist der gleiche Frust wieder da. Bezahlung und Arbeitszeiten gelten als „Hygienefaktoren“, sie müssen stimmen, um Konflikte und Probleme zu vermeiden, aber sie können nicht die Motivation verbessern.


Umdenken in Gewerkschaften

Umfragen zeigen: Immer mehr Menschen finden erfüllende Aufgaben, ein gutes Betriebsklima oder gelingende Work-Life-Balance wichtiger als gute Bezahlung. Verschlafen die Gewerkschaften diese Entwicklung? Können sie ihre schwächelnde Position festigen, indem sie immer nur mehr vom Selben machen, statt etwas Neues auszuprobieren? Wollen Gewerkschaften auf Dauer nicht in die Bedeutungslosigkeit fallen, müssen sie umdenken: Nicht mehr Unruhe und Entropie produzieren, indem sie die Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf Kosten der Kunden gegeneinander ausspielt, sondern Entropie abbauen, indem sie darauf hinarbeiten, Win-Win-Win-Lösungen für die Arbeitswelt zu finden. Das braucht natürlich mehr Phantasie, als das, was nötig ist, auf dem Rücken der Kunden einen Streik zu organisieren.

Die Gefahr in unserer sich wandelnden Arbeitswelt besteht darin, daß Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter die arbeitenden Menschen in ihrer unmündigen Rolle festschreiben. Wie in zu industriellen Zeiten, als der Arbeiter der Arbeitswelt einfach ausgeliefert war, verhandeln die Gewerkschaften für die Arbeitnehmer. Das paßt in der Informations- und Wissensgesellschaft immer weniger. Heute besitzen Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil der Produktionsmittel selbst – nämlich ihr Wissen. Das macht sie immer mehr zu ebenbürtigen Teilnehmern am Werschöpfungsprozeß. Man kann durchaus von „Wissensunternehmern“ sprechen. Auf diese Entwicklung müssen Gewerkschaften reagieren, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken wollen. Gewerkschaften sollten nicht mehr nur für die arbeitenden Menschen verhandeln, sondern sie auch stärken und in die Lage versetzen, selbst verhandeln und sich selbst weiterentwickeln zu können.

Das bedeutet für Gewerkschafter ein gewaltiges Umdenken. Dinge aufgeben, die man bisher tat, und Neues beginnen, was man bisher noch nicht tat – das ist ein bedrohlich erscheinender Umbau. Nicht Kampf, sondern Kooperation, nicht Gegeneinander, sondern Miteinander ist angesagt. Entropie entsteht schon von allein genug. Wir müssen uns zusammentun, um gemeinsam Entropie abzubauen – zu unser aller Nutzen. Werden Gewerkschaften Teil des Spiels sein? Wird es eine Win-Win-Win-Win-Lösung geben?


Gestalten statt stören

Was können Gewerkschaften also tun? Sie sollten Arbeitnehmer mit allen Mitteln darin unterstützen, mündige „Wissensunternehmer“ zu werden – ihre Fähigkeiten zu kennen und sie gezielt weiterzubilden. Darin steckt auch, in Arbeitnehmern ein Selbstverständnis zu wecken, daß sie als Bewerber nicht Bittsteller, sondern Anbieter sind. Arbeitnehmer sollten unternehmerisch denken lernen – um die Prozesse in dem Unternehmen, das sie beschäftigt, zu verstehen und mitzugestalten. Aber auch in eigener Sache als möglicher Existenzgründer und vielleicht künftiger Arbeitgeber. Damit könnten Gewerkschaften den Arbeitnehmern Alternativen zur abhängigen Beschäftigung aufzeigen - für mehr Möglichkeiten, wenn die Arbeit zur Last wird.

Es liegt auf der Hand, daß Gewerkschafter es hier mit einer Riesenherausforderung zu tun bekommen: Arbeitnehmer zu Unternehmern im Unternehmen zu machen, vielleicht sogar zu Arbeitgebern – darf denn das sein? Unternehmer sind doch böse! Andere für sich arbeiten zu lassen, ist doch Ausbeutung! Werden es die Gewerkschafter schaffen, diese ideologischen Barrieren zu überwinden uns sich von Grund auf zu erneuern? Werden Gewerkschaften künftig zur treibenden Kraft des Wandels in der Wissensgesellschaft sein – und damit als Mittler zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Richtung des Wandels im Interesse der arbeitenden Menschen mitgestalten können? Oder werden sie allmählich zu Museumsstücken früherer Arbeitsformen aus industriellen Zeiten?

Sie haben es sicher bemerkt: So manches, was ich gern in der Arbeit von Gewerkschaften verortet sähe, wünsche ich mir aus meiner eigenen Arbeit als Berufungscoach heraus. Als Coach kann ich nur wenigen Menschen auf begrenzte Weise helfen. Eine Organisation kann nicht nur mehr Menschen, sondern auch größere Ziele erreichen. Sie kann die arbeitenden Menschen einschließlich der Vorgesetzten für die arbeitsmäßigen Anforderungen der Wissensgesellschaft stärken und ihnen die dafür nötigen Kompetenzen vermitteln. Und sie kann im Interesse aller arbeitenden Menschen auch in die Politik hineinwirken, um die bisher industriell gedachte Arbeitsgesetzgebung zu erneuern.


Die Gewerkschaft nicht als Störenfried, sondern als kreativer Mittler zwischen den natürlicherweise unterschiedlich gelagerten Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, und sogar als Vermittler zwischen der Wirtschaft und der Politik – was halten Sie von dieser Vorstellung?

Herzlichst,
Ihr Reimar Lüngen



„Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr darin, neue Ideen zu entwickeln, sondern von den alten loszulassen.“
– John Maynard Keynes



Inhalt

> Zukunftsforschung: Grund zum Optimismus
> Termine und Infos
> Beruflichen Wandel meistern



Zukunftsforschung: Grund zum Optimismus

Ein außergewöhnlich langer und schöner Sommer geht zu Ende. Konnten Sie ihn ebenso dankbar genießen wie ich? Oder denken Sie sorgenvoll an den Klimawandel? Ich möchte Ihnen gerade jetzt, im tristen November, einen optimistischen Impuls vermitteln.

Wie Sie vielleicht wissen, finde ich Zukunftsthemen sehr spannend und ermutigend. Deshalb besuchte ich kürzlich eine Tagung mit dem bekannten Zukunftsforscher und Gründer des Zukunftsinstitutes, Matthias Horx. Mich hatte immer erstaunt, wie gelassen er mit all den problematischen und krisenhaften Dingen umgeht, die uns heutzutage so sehr beschäftigen. Auf der Tagung berichtete er von den Methoden der Zukunftsforschung vermittelte uns Teilnehmern, die er „Zukunftsagenten“ nannte, überraschende Zusammenhänge.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse für mich war, daß Entwicklungen, die wir heute beobachten können, in der Regel nicht linear verlaufen, sondern eher schleifenförmig („rekursiv“). So wird nach der Ansicht von Horx beispielsweise dem derzeitigen Hype der Digitalisierung, den ich auch schon in einem früheren Newsletter kritisch betrachtete, eine Ernüchterung und Enttäuschung folgen, eine Bewegung zurück zum Analogen, aus der heraus man erneut den Nutzen der Digitalisierung erkennen wird. Der dann folgende neue Trend hin zur Digitalisierung wird aus den früheren Erfahrungen und Fehlern gelernt haben und gereifter sein.


Zurück in die Zukunft

Der schleifenförmige Ansatz paßt nicht so recht in unser Denken. Wir sind es gewohnt, linear zu denken: Ein kleines Problem heute sehen wir zu einem großen Problem morgen werden. Hinzu kommt meist, daß wir so sehr auf das Negative fokussiert sind, daß uns das Positive entgeht. Kein Wunder, gilt doch in den allgegenwärtigen Medien die eiserne Regel: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Seriöse Zukunftsforschung steht aber vor der Herausforderung, das ganze Bild zu sehen. Nur dann kann sie den schmalen Grat zwischen überoptimistischen Utopismus und düsterem Endzeitdenken finden.

Einige positive Nachrichten von der Tagung möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:
> Die Jugendlichen sind heute gesünder denn je.
> Die von Wäldern bedeckte Fläche auf der Erde nimmt zu.
> Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt weltweit bei 71 Jahren.
> Die Zahl der Opfer bei Naturkatastrophen hat sich in den letzten Jahren halbiert.
> Der weitweite Anteil der Analphabeten an der Gesamtbevölkerung liegt bei 20 Prozent.
> Länder, die die meisten Krisen haben, entwickeln sich am besten.
> Die Bevölkerungsexplosion ist ein Gerücht.

Hätten Sie das gedacht? Glauben Sie es? Ich möchte Sie einladen zu einem Video, in dem der Statistikprofessor Hans Rosling die Sache mit der Bevölkerungsexplosion auf geniale Weise erläutert. Sie werden staunen, wie spannend so etwas Trockenes wie Statistik sein kann. Falls Sie noch nie von Rosling gehört haben, ist das kein Wunder. Die Medien schweigen ihn tot, denn er verdirbt ihnen das Geschäft mit den schlechten Nachrichten. Roslings zahlenbasierte Botschaft lautet nämlich: Die Welt ist besser, als wir denken. Mich hat das Video sehr froh gemacht. Es gibt viele Aha-Effekte und überraschende Perspektivwechsel. Wenn Sie das auch erleben möchten, sollten Sie etwas Englisch verstehen und sich eine knappe Stunde Zeit nehmen. Es lohnt sich.

Zum Video: www.gapminder.org/videos/dont-panic-the-facts-about-population/#.VFAa4aM_iGw



Termine und Infos

Eine intensive und anstrengende Zeit geht für mich zu Ende – mit Seminaren, die ich selbst gehalten habe, und solchen, an denen ich teilgenommen habe. Nun kommt bald der Dezember, und wir haben anderes im Kopf. Keine gute Zeit, noch Seminartermine aufzulegen. Deshalb ruht die Seminartätigkeit für den Rest des Jahres. Nächstes Jahr wird es wieder Seminare von mir geben. Der Newsletter wird Sie davon informieren.


Immer wieder werde ich gefragt, ob es solche Seminare, wie ich sie anbiete, auch anderswo als nur in Norddeutschland gäbe. Meines Wissens nicht – aber ich würde sie auch woanders halten, wenn ich eingeladen werde. Wenn es am Ort einen Ansprechpartner oder ein Team gibt, das bei der Organisation hilft und lokal auch ein wenig die Werbetrommel rührt, dann können wir mit wenig Aufwand Großes erreichen – natürlich zu beiderseitigem Nutzen, wie bisherige Veranstaltungen zeigen. Also: Wenn Sie mich als Referent einladen möchten, dann sprechen Sie mich gern an!

Mehr zu meinen Seminarthemen auf: www.RLuengen.de/termine



Beruflichen Wandel meistern

Sie sind frustriert im Beruf? Drohen auszubrennen? Langweilen sich zu Tode? Vermissen den Sinn? Dann bleiben Sie nicht in Ihrer frustrierenden Situation! Sie riskieren sonst gesundheitliche Schäden. Warten Sie nicht, bis es zu spät ist.

Wenn Sie sich eine Veränderung nicht zutrauen oder nicht wissen, was Sie tun sollen, dann stehe ich Ihnen mit Bewerbungs- oder Berufungscoaching gern zur Verfügung: Sie entdecken, was in Ihnen steckt, gewinnen Klarheit über Ihre Möglichkeiten, wissen, welche Richtung Sie einschlagen können, verstehen, wie der Bewerbungsprozeß funktioniert und präsentieren mutig einen Lebenslauf, auf den Sie stolz sein können.

Wenn Sie sich das wünschen, dann lassen Sie sich doch zu einem unverbindlichen und kostenlosen Kennenlerntelefonat einladen. Wir nehmen uns Zeit füreinander und ergründen, was Sie brauchen und was ich für Sie tun kann. Sie gehen kein Risiko ein: Nur wenn alles perfekt paßt, beginnen wir mit dem Coaching. Davor sind Sie zu nichts weiter verpflichtet.

So erreichen Sie mich:

Reimar Lüngen
Onckenstraße 11
22607 Hamburg

Tel. 040/28 41 09 45
E-Mail info@klaarkimming.org

Mehr Infos auf: www.KlaarKimming.org




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Stand: November 2014
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